Wie „Hansa“ wurde

Verein – Geschichte

Ein bedenklicher Auftrag
Von Willy Bernsmann

Die Geschichte des Spielvereins „Hansa“ soll ich niederschreiben. Oha – über diesen Auftrag oder – besser gesagt – über dieses Ansinnen habe ich mich. zunächst eine ganze Wucht gewundert. Warum? Nun denn: Weil ich mich schon seit einigen Jahren dazu unzuständig fühle. Man hat mir entgegengehalten: „Du hast doch einmal etwas mit Hansa zu tun gehabt“. „Zu tun gehabt“ ist gut. Sehr gut sogar. Ich hatte wirklich einmal etwas mit Hansa zu tun. Das muss ich eingestehen. Ein Geständnis wirkt manchmal strafmildernd. Und das ist wiederum auch eine Menge wert. Um es vorweg zu sagen: Ich habe eine starke Abneigung gegen eine geschriebene Vereinsgeschichte, denn weil sie dann schwarz auf weiß dasteht, hat man sich und die Vereinsgeschichte für immer festgelegt und kann sie später nicht mehr deuteln oder umbiegen.

Zweitens meinte ich: Einer Vereinsgeschichte haftet meist der traurige Geschmack eines Nachrufes an. Ein Nachruf ist bestens eine verspätete Todesanzeige, also eine Arbeit im Nachhinein, etwa weil der Geschäftsführer, wie so oft, wieder einmal einen Termin verpasst hat. Allerdings hat der Spielverein jetzt in 35 absolut kräftigen Lebensjahren bewiesen, dass er gar nicht die Absicht hat, zu sterben. Mit diesem Argument konnte ich mich also leider auch nicht an einer geschriebenen Hansa-Vereinsgeschichte herumdrücken. Das wäre unlogisch. Drittens, und das war schließlich ausschlaggebend, sagte man mir, diese meine Vereinsgeschichte sei für die Festschrift des Spielvereins bestimmt und eine Festschrift ohne Vereinsgeschichte sei wiederum undenkbar. Das sollte ein guter Köder sein. Was ist eine Festschrift, fragte ich mich und was ist besonders wichtig darin?

Doch wohl die „Festfolge“, nicht wahr, lieber Leser? In jeder Festschrift ist also eine unvermeidliche „Festfolge!“ Zu finden etwa so:

6 Uhr: Wecken (die verehrten Bürger werden gebeten, zu flaggen).
8 Uhr: Empfang der Ehrengäste (die Gäste sind dazu da, bei der Angelegenheit zuzusehen und bei den unpassenden Stellen zu applaudieren).
10 Uhr: Festmarsch mit Trommler- und Pfeiferkorps ab Festzelt (Treffpunkt am Bunker, über Nienkampstraße, Scheideweg, Herbertstraße, Glückaufstraße und Feldhauser Straße).

Und was dann kommt, wissen wir ja. Falls dem tüchtigen Vorstand tatsächlich etwas ganz Neues einfällt, enthält die Festfolge z. B. endlich ein Fußballturnier oder das 99. Freundschaftsspiel gegen den Nachbarverein.

Die Festfolge in der Festschrift wird jahrelang und immer wieder gern gelesen, weil sie ja auch wichtiger und interessanter ist als eine trockene Vereinsgeschichte. Wen interessiert heute noch, was damals war? Wenige werden es sein, die sie lesen, und wenn, dann doch nur zu dem Zwecke, kontrollierend festzustellen, wie oft oder gar nicht sie selbst oder andere Mitglieder in der Vereinsgeschichte genannt wurden. Auch die Verantwortlichen für die Festfolge einerseits und die Vereinsgeschichte andererseits ist meines Erachtens und, wie so vieles im Leben, ungerecht verteilt.

Denn: Für die Festfolge ist ein ganzer Vorstand plus Festkomitee plus Spielausschuss plus Bürgerverein zuständig und verantwortlich. Das ist doch eine kinderleichte Angelegenheit. Da die Festfolge dann nach Meinung der immer noch vorhandenen Besserwisser sowieso total unrichtig aufgestellt war, werden der Vorstand plus Festkomitee plus Spielausschuss plus Bürgerverein einfach abgesägt, und der Schaden ist behoben, ohne dass später noch ein Hahn danach kräht.

Es bleibt dadurch niemals ein Makel oder sonst etwas an den Abgesägten hängen. Im Gegenteil, da die Festfolge so viele geistige Väter hatte, kennt man den einzelnen sehr bald nicht mehr. Schwieriger liegt aber der Fall bei mir. Ich soll allein und dann noch ohne Archiv eine komplette Vereinsgeschichte schreiben, also auch all ein die Verantwortung tragen.

Ist das gerecht? Wenn ich es dennoch tue, dann nur aus zwei ganz delikaten Gründen: Erstens bin ich weit ab vom Schuss und ich kann – zweitens – in keiner Hansa-Mitgliederversammlung abgesägt werden, weil ich weder dem Vorstand, dem Festkomitee oder Spielausschuss oder Bürgerverein angehöre. Das und die Schadenfreude haben mich bewogen, die Vereinsgeschichte doch noch zu schreiben. Oder muss ich fürchten, doch noch eine Hansa-Ehrennadel mit Eichenlaub usw. dafür verliehen zu bekommen oder – und was noch schlimmer wäre – meine Vereinsgeschichte wird gar keinen Ärger auslösen und die Schadenfreude mir missgönnt?

Das wäre schade. Wenn so, so bleibt mir – und das kann mir keiner verdenken – wenigstens die Vorfreude über die Schadenfreude. Ich mache sofort einen Beginn damit: nämlich mit der ersten Enttäuschung. Meine Vereinsgeschichte wird bestimmt keine Vereinsgeschichte werden, denn mir stehen, wie gesagt, keinerlei Unterlagen zur Verfügung. Somit kann ich lustig drauflos schreiben. Ich war gezwungen, nur aus dem Gedächtnis zu schreiben. Da aber mein Gedächtnis mehr auf Gegenwart und Zukunft eingerichtet ist, mögen die verehrten Leser bedenken, dass der Restbestand aus solch lang zurückliegender Zeit keine vollständige Vereinsgeschichte schaffen kann.

Ich muss daher Neugierige warnen, denn meine Vereinsgeschichte kann wirklich nur ein unvollständiger Querschnitt oder ein Aufriss innerhalb eines begrenzten Zeitraumes sein. Ich bitte diesen Vorbehalt nicht als eine faule Ausrede auszulegen. Finden dann die Angaben meiner Vereinsgeschichte nicht die Billigung der Mehrheit, so habe ich vielleicht die tröstliche Aussicht, dass ich später nicht mehr mit der Abfassung einer Vereinsgeschichte behelligt werde. Mein Dichterkollege, Herr Johann Wolfgang v. Goethe hat bei der Beurteilung des Entwurfs zu einem dokumentarischen Werk eines anderen Dichterkollegen einmal den Satz geprägt: „Wenn es nicht stimmt, dann ist es doch gut erfunden!“

Willy Bernsmann